24.11.2020, deutschsprachige Sektion des Critical Physiotherapy Network (DCPN)
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Das Verhältnis der Wissenschaft zu Professionen kann als grundsätzlich spannungsgeladen bezeichnet werden (Stichweh 1994). Während die Wissenschaft die Gültigkeit von Theorien und Erklärungsmodellen prüft und dabei von einer „Offenheit und Vagheit des Wissens“ (Ludwig 2015: 19) ausgeht, erwartet die Profession gesichertes Wissen zur Absicherung ihrer Handlungspraxis. Gleichzeitig ist eine Trennung in „Theorie“ auf der einen und „Praxis“ auf der anderen Seite kaum zielführend. Denn auch „ […] die sogenannten „Praktiker“ […] verwenden Theorien, alltägliche Theorien, die sie ihrem Handeln begründend unterlegen“ (Ludwig 2015: 20). Es handelt sich also hierbei um eine Art anwendungsbezogener, intrinsischer Theorie, welche das Handeln leitet. Auf der anderen Seite steht die Theorie der Wissenschaft, welche den Anspruch erhebt, objektiv, weitreichend gültig sowie empirisch belegbar zu sein.
Dieses Differenzmodell von Wissenschaft und Professionen führt dazu, dass eine gelingende Beziehung zwischen beiden Systemen nicht zwangsläufig ist. Vielmehr muss diese über aufwändige Austausch- und Aushandlungsprozesse permanent hergestellt werden (Beck/Bonß 1989). Dies ist auch von beiden Seiten gewünscht: Die Wissenschaft möchte ihre Erkenntnisse in der Handlungspraxis berücksichtigt sehen (Stichwort evidenzbasierte Praxis), die Handlungspraxis erwartet, wie oben erwähnt, abgesichertes Wissen, um nach ethischen Prinzipien eine für die Patienten bestmögliche Therapie zu realisieren. Zu erreichen ist das Ziel einer guten Wissenschaft-Profession-Beziehung schwer.
Zahlreiche Wissenschaftstheoretiker haben sich mit diesem Phänomen befasst (bspw. Fleck 1935, Kuhn 1974, Parsons 1968, Popper 1934, Stichweh 1994, Luhmann 1981, 1992) und bringen teilweise sehr kontroverse Grundannahmen hervor. Eine Gemeinsamkeit bei allen ist die Frage danach, wie Wissen entsteht und wie es den Weg in die Gesellschaft findet? Eine zentrale, wenn auch nicht erschöpfende Antwort auf diese Frage lautet, dass Wissen zum einen als prozesshaft anzusehen ist, also sich mit der Zeit entwickelt und verändert (Historizität des Wissens). Gleichzeitig ist Wissen stets an einen Zeitgeist gebunden, also nicht frei vom Einfluss „moderner“ sozialer und kultureller Überzeugungen (Kontextualität des Wissens). Denkschulen und Denkstile (Fleck) oder auch Paradigmen (Kuhn) sind das Ergebnis.
Die aus der Historie gewachsenen und durch den Zeitgeist geprägten Erkenntnisprozesse haben ein gewisses Beharrungsvermögen gegenüber kritischen Einlassungen und Veränderungen. Zum einen resultiert dies aus der Annahme, dass einmal durch die Wissenschaft Erkanntes so lange als wahrscheinlich gültig angesehen wird, bis es widerlegt ist. Zum anderen gibt es aber auch immer eine Gruppe von Menschen, die von den zeitgenössischen Gegebenheiten ideell oder materiell profitiert. Beispielsweise findet sich im aktuellen, von hochkomplexer Statistik dominierten Empirismus der klinischen Forschung kaum Förderung und Akzeptanz von qualitativ-empirischen Erkenntnissen. Diese könnten jedoch dazu beitragen, das Verständnis komplexer Krankheitsgeschehen in Zeiten von Chronifizierung und Multimorbidität zu verbessern. Daraus wiederum könnten Behandlungsstrategien entwickelt werden, die nicht zentral Hospitalisierung, operative Intervention und Multimedikation beinhalten, sondern interprofessionell und lebensweltbezogen nachhaltige Lösungen anbieten.
Das angesprochene Beharrungsvermögen existiert sowohl in der Wissenschaft als auch in der Profession, wenn auch mit unterschiedlichen Rahmungen. Während die Wissenschaft ihrerseits intern mit Paradigmen ringt, setzt sich die Handlungspraxis mit relativ veränderungsresistenten Konzepten und Methoden auseinander. Hinzu kommen auf beiden Seiten gesellschaftliche Rahmungen die oft sehr wirkmächtig sind wie z.B. materielle Zwänge, juristische und politische Entscheidungen. Und dann sollen sich beide auch noch aufeinander beziehen? Das vorgeschlagene Modell für eine Wissenschaft-Profession-Beziehung in der Physiotherapie (Abb.) bietet einen Zugang für theoretische und empirische Betrachtungen einzelner Teilbereiche des Beziehungskonstruktes. So können alle „Brücken“ bezogen auf ihre Rolle für die Beziehungsgestaltung hin analysiert werden. Zwei Schlüsselstellen für eine tatsächliche Beziehungsrealität finden sich im Bereich der Versorgung sowie im Bereich der beruflichen Qualifikation (Aus- und Weiterbildung). Hier sollen Wissenschaft und Profession idealtypisch zusammenkommen, um letztendlich eine optimale Versorgung von Patienten zu gewährleisten. Jedoch muss dieses Ideal aktiv errungen werden.
Robert Richter is physiotherapist and medical educator and has since 2017 the professorship for movement therapy at Furtwangen University (Germany). His research and teaching focuses are on interprofessional teaching and learning, theory-practice relationship in physiotherapy, therapist-patient relationship and more recently environmental physiotherapy. His practice focuses on musculoskeletal and pulmonary disorders.
Literatur
Beck, U.; Bonß, W. (1989): Verwissenschaftlichung ohne Aufklärung? Zum Strukturwandel von Wissenschaft und Praxis. In: Ulrich Beck und Wolfgang Bonß (Hg.): WederSozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichenWissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7–45.
Fleck, L. (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache – Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Suhrkamp, Berlin. (Neuauflage der Originalausgabe von 1935)
Kuhn, T.S. (1974): Second thoughts on paradigms. In: Suppe, F. (Hg): The structure of scientific theories. University of Illinois press, Urbana: 459-482.
Ludwig, J. (2015): Zum Verhältnis von Wissenschaft und Erwachsenenbildung. In: Hessischer Volkshochschulverband (Hg): Hessische Blätter für Volksbildung, 1/2015: 17-26.
Luhmann, N. (1981): Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Westdeutscher Verlag, Opladen.
Luhmann, N. (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt/M.
Parsons, T. (1968): Professions. In: International Encyclopedia of the Social Science 12/1968: 536-547.
Popper, K. (1959): The Logic of Scientific Discovery. Routledge, London.
Richter, R. (2016): Physiotherapie und Wissenschaft – Die wissenschaftliche Emanzipation der Physiotherapie im Spannungsverhältnis von Disziplinbildung und Professionalisierung. Dissertation an der Universität Potsdam. Unter: https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/index/index/docId/9470, (02.03.2021).
Richter, R. (2018): Modell der Theorie-Praxis-Beziehung in der Physiotherapie. In: Höppner, H.; Richter, R. (Hg): Theorie und Modelle der Physiotherapie – Ein Handbuch. Hogrefe, Bern: 213-234.Stichweh, R. (1994): Wissenschaft, Universität, Professionen. Suhrkamp, Berlin.
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