(A lifeworld oriented physiotherapy – The english version of this blogpost can be downloaded here)
Wir kennen sie alle – folgende Situationen aus dem beruflichen oder privaten Alltag: Senioren, die in ländlichen Regionen mit schlechter Infrastruktur leben. Menschen, die mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen leben. Menschen, ohne Ausbildung und ohne Arbeit. Menschen, die in Großfamilien (auf engem Wohnraum leben) und Menschen mit besonderer Migrationserfahrung. So kann die Aufzählung schwieriger und doch so alltäglicher Lebensbedingungen fortgeführt werden. Allgemein bekannt ist, dass die Lebensbedingungen einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheit und die Lebenserwartung der Menschen haben. Verstärkt wird dieser Einfluss derzeit sicherlich auch durch die Covid-19-Pandemie.
Die Physiotherapie muss sich generell fragen, welchen Einfluss individuelle Lebensbedingungen auf den Therapieprozess und den damit einhergehenden Therapieerfolg haben. Vor diesem Hintergrund stellt sich ebenso die Frage nach der physiotherapeutischen Haltung und dem Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen.
An dieser Stelle kurz umrissen, lässt sich auch feststellen, dass die Physiotherapie durchaus Berührungspunkte mit den Problemlagen der Gesellschaft hat. Dass sich Menschen, die zu uns in die Therapie kommen, in prekären Lebensverhältnissen befinden oder von Prekarität bedroht sein können, ist schon heute so. In logischer Konsequenz beeinflussen die Lebensbedingungen den physiotherapeutischen Behandlungsprozess. Umgekehrt nimmt die Physiotherapie aber auch Einfluss auf die Lebenswelten der Menschen.
Wie genau sich dieser Einfluss bzw. die Orientierung der Physiotherapie an den Lebenswelten der Menschen darstellt, untersuche ich in meinem laufenden Promotionsprojekt Perspektiven lebensweltorientierter Physiotherapie.
Bei einem der monatlichen online-Treffen der deutschsprachigen Sektion des Critical Physiotherapy Network am 23.02.2021 hatte ich die Gelegenheit, Auszüge aus dem Forschungsprojekt vorzustellen und mit den Teilnehmenden zu diskutieren. Das Projekt geht zunächst der Frage nach, wie sich die Orientierung an der Lebenswelt in der Physiotherapie darstellt, um im Weiteren zu überprüfen, ob sich das Theoriekonzept der Lebensweltorientierung aus der Sozialen Arbeit auf die besonderen Rahmenbedingungen der Physiotherapie übertragen lässt.
Im Anschluss an die Präsentation wurde in Hinblick auf gesellschaftliche Problemlagen und die Lebensbedingungen der Menschen folgende Frage zur Diskussion gestellt: Welche Rolle kann die Physiotherapie in der Gesellschaft einnehmen? Unter den Teilnehmenden entfachte eine rege Diskussion – von dem Standpunkt „Was sollen wir noch alles tun?“ bis hin zu „Was können wir noch alles tun?“. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass ein leitender Aspekt der Diskussion, die Frage nach der Einmischung (der Physiotherapie) in die Lebensbereiche und in gesellschaftliche Rahmenbedingungen war. Ebenso wurde deutlich, dass Fragen zur Berufsidentität und den Kompetenzbereichen der Physiotherapie offen sind. Wo enden die Kompetenzbereiche der Physiotherapie? Wo sind Synergien zu finden und wie lassen sich Netzwerke bilden?
Zur Autorin:
Nadia El-Seoud ist Physiotherapeutin und machte 2013 einen Master-Abschluss im Fach Soziale Arbeit und Gesundheit im Kontext Sozialer Kohäsion. Seit 2019 ist sie Doktorandin Public Health an der Universität Bremen, Human- und Gesundheitswissenschaften, in Deutschland. Sie promoviert zum Thema Perspektiven lebensweltorientierter Physiotherapie.
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